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Literaturhaus Lesebühne

Literaturhaus Lesebühne: Siegertext Januar 2005


Grand Hand ohne Buben

1. Nur der Gürtel um die Taille stört

Zuerst habe ich noch gelacht. Aber es war kein besonders fröhliches Lachen. Eher so ein lautes Kneipenlachen, das man lacht, wenn man im Skat einen Grand Hand ohne vieren gewonnen hat. Ein besonders riskantes Spiel ist das, man kann es sehr gut verlieren und es kommt nicht so häufig vor, dass man den Mut hat, es zu spielen. Ich sehe auf die Uhr am Ende des Schlafsaales und beginne zu begreifen, trotz hoher Dosis Haldol, dass mein gesamtes bisheriges Leben ein solch riskantes Spiel gewesen ist. Ich hatte hoch gereizt, wahrscheinlich zu hoch. Jetzt liege ich im Wachsaal der Psychiatrie, um den Bauch einen Gürtel, der mich ans Bett fesselt.
Ich höre zwar noch einige der Worte, die eine Ärztin an mich richtet. Ich sehe auch die Menschen, die mit mir sprechen. Eine Farbige geht den schmalen Gang zwischen den Betten auf und ab, immer wieder, wie eine geschmeidige, wilde Raubkatze. Ich höre wieder Worte, aber ich kann schon lange nicht mehr begreifen, was da gesagt wird. Jetzt liege ich schlaff und willenlos auf dem Rücken und starre vor mich hin. Ich versuchen, zu verstehen, was da mit mir passiert ist. Noch weiß ich nicht, dass mir das nie ganz gelingen wird.
Ich habe das Gefühl, in einem gläsernen Gehäuse zu liegen und ich weiß, dass dieses Ticken, das ich höre, nicht von der Uhr stammt. Es sind die Worte, die ticken, Du tickst nicht ganz richtig formuliert sofort mein Gehirn. Es ist also doch trotz Haldol noch nicht ganz ausgeschaltet. Es sind die Worte, die an der wattierten Glaswand zwischen mir und den anderen abprallen. Manchmal versuche ich, mich trotz des Gürtels etwas aufzusetzen, dann versuche ich mit äußerster Anstrengung, die Barriere zwischen mir und der Außenwelt zu durchbrechen. Ich fange ab und zu ein einzelnes Wort auf von den schnell aufeinander folgenden Sätzen. Mein Gehirn weigert sich jedoch gänzlich, das Gehörte in irgendeine sinnvolle Vorstellung umzuwandeln. Ich bemühe mich also nicht weiter, das Watteglas zu durchbrechen und konzentriere mich nur noch darauf, was in meinem Inneren vorgeht.
Ich bin wieder zehn Jahre alt. Am Nacktbadestrand in Hörnum auf Sylt ist munteres Strandleben. Ich gehe jedoch weg aus der Menschenmenge und lege mich ganz alleine in eine Dünenkuhle mit heißem weißem Sand. Die Sonne scheint vom blauen Himmel, die Nordsee ist tiefblau und ruhig, auf der Sandbank brechen sich leichte Wellen. Eine sanfte Brise kommt vom Meer herauf. Die Dünenkuhle wird völlig geschützt eingerahmt von dichtem Grün des Strandhafers. Leise wogen die Pflanzen wie ein Wellenmeer. Die Wellen eines großen Meeres schaukeln mich jetzt. Still liege ich im Bett und lasse mich willenlos treiben. Manchmal spüre ich, wie eine Welle den Körper empor trägt und kurz darauf wieder fallen lässt. Ein anderes Mal treiben mich die Wellen aufs Meer hinaus, um mich wenig später auf den Strand zu werfen. Die rhythmische Dünung bewirkt, dass ich ein wenig zur Ruhe komme und dadurch meine Umgebung wieder etwas deutlicher erkenne.
Die Worte haben sich inzwischen in einen Funkenregen verwandelt, der wie ein Laserstrahl auf meiner unsichtbaren gläsernen Wand auftrifft. Ich versuche zum wiederholten Male, die Uhr am Ende des Saales abzulesen. Durch den konzentrierten Blick ist ganz plötzlich, ohne dass ich auch nur das kleinste Geräusch gehört hätte, die Glaswand zwischen mir und der Außenwelt zersprungen. Fast sofort lassen sich die Hirnzellen trotz des starken Medikamentes nicht länger zwingen, abgeschaltet zu bleiben. Sie fallen wieder automatisch aus der Nebel-, Farb- und Phantasiewelt in das Muster zurück, das sie gelernt haben – aus Worten Begriffe zu bilden. „Du bist verrückt“, höre ich die anderen sagen. Ich weiß nicht, ob wirklich jemand etwas gesagt hat. „Wenn Du so weitermachst, kommst Du unweigerlich in eine Anstalt.“ Von ganz alleine kommt die Antwort, laut und deutlich: „Ich bin überhaupt nicht verrückt, ich habe nur zuviel Gefühl, zuviel Liebe in mir.“ Das Gefühl, unglücklich zu sein, wird so stark, dass ich die Augen verschließe. Mit den ersten Tränen kommt, wie eine Erlösung, der traumvolle Schlaf.
Ein Schlaf, in dem ich lebe. Ich trage das weiße Kleid, um die Taille den Ledergürtel mit den vielen Löchern für ganz viele Taillengrößen. Ich sitze auf der Kutsche, deren Pferde mich nach Spanien entführen. So, wie ich es vorhergesehen hatte. Zum Glück hatte ich alles, was mir wichtig war, in den Fahrradkorb gepackt. So konnte ich schnell los, als es sein musste. Die Musik passt zum Traben der Pferde. Alles ist hell und klar und freundlich. Nur der Gürtel um die Taille stört. Der Gürtel, mit dem man mich ans Bett gebunden hat.
Mein Selbst verlor in diesen Tagen im Juni seine Umgrenzung. Gerade hatte ich noch die gelben Lilien im Zauberwald von Strande für mich blühen gesehen und ihren bedeutungsvollen Gruß erwidert. Und jetzt sah ich die Zeit zerbröckeln. Ich hatte kein Zeitgefühl mehr und keine Kenntnis über mein Tun. Der Raum verschwand kurz nach der Zeit und auf die gleiche Weise. Wir - denn plötzlich war ich viele Personen aus vielen Momenten in meinem Leben - wir gerieten in Panik, aber diese Panik ging uns nichts an. Es gab kein „Wir“ mehr. Wir wollten uns gerne irgendwohin wenden, aber da war auch das Irgendwo verschwunden. Von nun an waren wir im Nirgendwo. Fremde benutzen mich jetzt wie einen Automaten für ihre mir unbekannten Zwecke. Manche von Ihnen sah ich, von anderen hörte ich nur die Stimmen. Eindringlich und schneidend vernahm ich ihre Befehle und hörte, wie sie mich kritisierten. Ich hatte große Angst. Diese Angst erinnerte mich daran, dass es mich doch irgendwie gab oder gegeben hatte. Das alles geschah an einem Ort, den sie Nervenklinik Kiel nannten und an dem ich als Kind manchmal gespielt hatte, weil ich in einer der Nachbarstraßen wohnte. Hohe Zäune hinderten mich damals am Weitergehen. Jetzt auch, nur von der anderen Seite.
Ich verstand, dass sich das Wort auf mich bezog, das Wort, das sich wie ein Skalpell in mein Gehirn schnitt: „Schizophrenie“. Oder ein anderes Wort, ebenso unverständlich: „Psychose“. Wieder wusste ich nicht sicher, ob da jemand gesprochen hatte oder ob meine Gehirnzellen wieder Stimmen produzierten. Wer glaubt, dass eine solche Reise in das totale Innen, in das aller Vorstellung Unvorstellbare noch nie einem Menschen passiert sein könnte, der irrt. Und wer denkt, dass man von so einer Reise nie wieder zurück kommen kann, der irrt ebenso. Einer, der ins Nichts fiel und zurückkam, würde sein Erlebtes vielleicht so beschreiben. Oder anders.
Ich habe gewusst, dass Blicke in den Abgrund der anderen gegen den guten Ton verstoßen. Ich habe trotzdem geblickt und wache nachts im totenstillen Schlafsaal der Klinik in einem erlösenden Strom von Tränen wieder auf. Ich beweine zum ersten Mal das Scheitern meiner dreizehnjährigen Beziehung zu meinem Ehemann. Unglaublich, aber bisher war ich nur maßlos wütend darüber, jetzt kann ich zum ersten Mal auch meiner Trauer Raum geben. Ich war bisher wütend auf Jörg, aber auch wütend auf mich, wütend darüber, dass wir unseren gemeinsamen Lebensplan auch gemeinsam wieder zerstört hatten. Jetzt kann ich zum ersten Mal weinen, es befreit mich unwahrscheinlich.
Am nächsten Tag kann ich schon wieder etwas klarer denken. Der Klinikfotograf kommt und macht ein Bild von mir, das ich später in meiner Akte wiedersehe. Ich kann mich selber nicht erkennen, wildes Haar, wilde Augen, wildes Gehirn, alles für mich deutlich sichtbar. So bin ich also von einer kurzen Urlaubsreise nach Rotterdam wiedergekommen, der längsten Reise meines Lebens. Da war ich Jean Lou wieder begegnet, dem Mann, den ich im Dunkeln kennen gelernt hatte. Dem Mann, der mir half, meine Ehe zu beenden, die ohnehin nur noch auf dem Papier bestand. Dem Mann, in den ich mich so verliebt hatte, dass es mein Leben zu gefährden begann.
Ich war ihm begegnet. Vehement. Verwirrend. Verrückt vor Liebe. So nahe im Himmel, so sehr in der Hölle der Distanz. Er musste auf Distanz gehen, konnte soviel an Emotionen, soviel verschüttetes, soviel ihm ähnliches noch nicht an sich heranlassen. Das sagt das Gehirn. Doch das Herz will es anders. Es übernimmt ab sofort das Ruder in dem gestrandeten Schiff. Unerschöpfliches Staunen über die Tatsache, dass eine Vision Wirklichkeit geworden ist: er hält Distanz, weil wir sowieso auf ewig verbunden sind miteinander. Er hat mich hypnotisiert. Mein Hirn, klein geworden wie das eines Hühnchens, begreift nicht, dass ich es bin, die sich selbst hypnotisiert, weil meine Gedanken immer wieder um dieselbe Person Kreisen. Die erste Krise beginnt nach dem Fest in Rotterdam. Alle Freunde sind wieder weg, ich bin allein in meinem Haus in Strande am Ostseestrand.
Ich beginne schon in Rotterdam, verwirrt zu werden. Rufe meine Mutter an, die meinen Hilferuf nicht versteht. Ich gehe in eine Rotterdamer Kneipe am Hafen. Das hat doch immer funktioniert. Ich spreche mit einem Mann am Tresen. Belangloses. Nach einer Weile lächelt er mich verführerisch an und - geht. Ohne mir zu sagen, wohin. Ohne mir zu sagen, wo wir uns wiederfinden. Mein altes Trauma stülpt sich über mich, so heftig, dass ich ihm folgen muss. Einmal muss ER mir doch sagen, warum ER weggeht von mir. Und wohin. Und warum ER auf dem Rückzug ist, auf der Flucht. Vor mir? Vor sich selber? Vor meinem oder seinem Schatten? Ich werde selbst zum Schatten und nehme die Jagd auf.

Literaturhaus Schleswig-Holstein: Siegertext auf der Lesebühne im Januar 2005.